Immer staunst du aufs neue, sobald sich am Stengel die Blume über dem schlanken Gerüst wechselnder Blätter bewegt.
Johann Wolfgang von Goethe
In feinsten Nuancen von Übergängen und Zwischenräumen über flirrende, offenere Strukturen in vielfacher Überlagerung von Linie und Farbgewichten spannt sich der Bogen von Evelyn Werhahns Arbeiten von dichten, eher geschlossenen Sujets, die das Gesehene noch ganz gegenständlich in einen kompakten Farbzusammenhang ummünzen, hin zu den Modulationen, die hingetupfte, naturhafte Formen, Schoten, Keime, Samen vereinzelt auf dem Grund schweben lassen. Die geschmeidigen Farbzeichen sind dann in stetem Übergang, versetzten die Bildfläche in musikalische Schwingung, zugleich aber lassen sie in der Isolierung und Reihung der Form die naturwissenschaftliche Untersuchung anklingen. Immer sind es vibrierende Anordnungen, die einerseits in die Natur der Natur hineinführen, andererseits aber als Neuerfindung immer auch Recherche des malerischen Prozesses selbst sind. Das eigenwillige Fließen, die Eigenmacht der Farbe, die unvorhersehbare Mischung der farbigen Tuschen, ihre Ausfransungen und Tropfen werden nicht getilgt, sondern haben Teil am pulsierenden, atmenden Gesamt, an der Reflektion im Spiel und Widerspiel von Farb- und Formereignis. Die Bilder fließen wirklich, sie gehen ineinander über, nichts ist vorgefertigtes Kalkül, alles was hervorkommt, alles was es zu sehen gibt, alles, was da in Farben, Formen, in ihrem Ineinander entsteht, sieht so frisch aus, als müssten wir erst wieder anfangen, es sehend zu verstehen. Und in dieser mobilisierten Wahrnehmung werden wir zusehends unvorbereiteter auf diese Natur, die wir zu kennen glauben. Dieser Malerei im Werden der Wahrnehmung korrespondieren die Metamorphosen der Natur, den in ihr wirkenden Kräften der steten Verwandlung.
So wie die Natur mit ihren Formen spielt und spielend das mannigfache Leben hervorbringt, sind Evelyn Werhahns Bilder und Zeichen Formfindungen parallel zum wunderbaren Rätsel der Natur. Die Freude am Sichtbaren, die präzise Beobachtung von Strukturen, Farben, Geflechten verdichtet sich in der Bearbeitung, in der Transformation des dynamischen Naturgeschehens zum Bildereignis, zu unvorhersehbaren Gebilden. So wie sich jede Blüte immer wieder neu entfaltet, so fächern diese Arbeiten die wundersamen Vorgänge des Übergangs auf, kristallisieren die Verwandlungsenergien der Natur, werden zu einem komplexen Geflecht aus Farbe, Linie, Fläche, Raum. In ihrer Malerei erkundet Evelyn Werhahn frei und behutsam das uralte, vertrackte Verhältnis zwischen Vorbild und Bild, zwischen Natur und Kunst, zwischen Mimesis und Schöpfung. Dabei ist ihre Malerei ein Ort, an dem sich Verwandlungen nicht einfach nur ereignen. Eher scheint die Malerei selbst im permanenten Wandel, in steter Metamorphose, die keinen Anfang und kein Ende kennt. Und wie in der Natur eins ins andere übergeht, so ist auch das Werk der Künstlerin immer eines des Übergangs, der Transition, der Anverwandlung. Das Innen und Außen der Bilder halten sich in schwebender Balance. Die wuchernden oder vereinzelten Figurationen bilden nicht einfach ab. In ihrer Akzentuierung, ihrer schwebenden Anordnung auf unterschiedlichen Bildgründen gewinnen Kakteen, Seerosen, Orchideen das Eigenleben veränderten Erscheinens. Und angereichert durch unsere Erfahrungen und Phantasien beleben sich die Pflanzen, Gewächse, Fossilien, die wir kennen, die wir gesehen haben wieder - und doch sind sie ganz neu. Sie erinnern, geheimnisvoll und lebensbejahend, an den Reichtum der Welt um uns herum. Es ist, als ob die spontanen, unvorhersehbaren Prozesse, die Verzweigungen und Diskontinuitäten der Evolution in ihrer unabschließbaren Potentialität in den intimen Bildräumen noch einmal in der lebendigen Metamorphose des einen zum andern zur Aufführung kommen. Die Konstruktion des Bildes und die Desavouierung jeder Verfestigung zu einsinnig lesbaren Daten schieben sich schier unauflöslich ineinander. Das Bild wird Rhythmus, Ornament, Farbklang, Figuration einer Verzahnung der Gegensätze. Und wie in der Natur kein Ding ist, das nicht seine Stimme in das Konzert einbrächte, so hat auch hier jedes Element Teil am Bildorganismus. Dabei wird auch die Farbe als ein „Universum aus gegenseitiger Spiegelung und Durchdringung, in dem nichts isoliert oder unberührt bleibt“¹ noch einmal und ganz neu ins Werk gesetzt. Farbe ist Medium und reine Eigenschaft. Ihr Vermögen ist das Energetische, Aleatorische, ein Spiel mit Nuancen, ein Überspielen, Verwischen und Auflösen der Kontur, Modulation und Verwandlung. In den intimen Bildräumen Evelyn Werhahns öffnet sich die Erfahrbarkeit der Welt in ihrer unausschöplichen, leuchtenden Fülle.
Dorothée Bauerle-Willert
1 Charles Baudelaire, Sämtliche Werke, Bd. 1 Juvenilia – Kunstkritik 1832 -1846, hrsg. von Friedhelm Kemp u.a. München Wien 1977, S. 202